Frühe Re-Education im Nachkriegsdeutschland: Nationalsozialismus und Kunst / Marburger Vorträge
Beitrag zum 5. #GLAMInstaWalk #AberHierLebenNeinDanke – Oder doch?
Im Sommer 1946 befassten sich Professoren der Marburger Philipps-Universität, Vertreter weiterer deutscher und schweizerischer Hochschulen sowie der US-Militärregierung1 während einer dreitätigen Tagung mit demokratischen Reformen des Wissenschaftswesens im (westlichen) Nachkriegsdeutschland2.
In einem vermutlich begleitenden Hörfunkprogramm „Professorial Program Marburg“ trugen namhafte Vertreter der Disziplinen, darunter der Universitätsrektor, Lehrstuhlinhaber und ein Pädagoge in einer sechsteiligen Reihe ihre Ansichten zum Erbe des Nationalsozialismus in Wissenschaft, Philosophie, Religion, Erziehung, Wirtschaft und Kunst dem interessierten Publikum vor. In der im IfZ-Archiv erhaltenen Überlieferung liegen die sechs Skripte mit jeweils einer Sendungs-einleitenden und -abschließenden Erläuterung vor3. Im ersten Beitrag des Rektors Reinhardt zu Universitäten und Nationalsozialismus geht der Autor explizit darauf ein, dass die Akademiker mit „dem eigenen Volk und der ganzen Welt in ein Gespräch“ kommen wollen4.
Aus Anlass des 5. „GLAMInstaWalks“ Münchner Kultureinrichtungen am 03. Februar 2025 im Lenbachhaus und dessen Ausstellung „Surrealismus und Antifaschismus“ greift das IfZ-Archiv in seinem Beitrag das Skript des Kunsthistorikers Richard Hamann auf5.
Hamann6 war zum Ausstrahlungszeitpunkt bereits über 30 Jahre Ordinarius für Kunstgeschichte in Marburg. Auch außerhalb der Fachwelt wurde der Professor durch die zweibändige Geschichte der Kunst (Bd. 1: 1933, Bd. 2: 1959, zahlreiche Auflagen) bekannt.
Der Überblicksbetrag „Nationalsozialismus und Bildende Kunst“ beschreibt auf sieben maschinenschriftlichen Seiten und in etwa 10 Minuten Sprechzeit wesentliche Gegensätze und Kritikpunkte an der nationalsozialistischen Kunstpolitik, dem Macht- und Kunstverständnis Hitlers wie auch seiner (deutlich in Abrede gestellten) künstlerischen Begabung und daraus resultierenden politischen Entscheidungen. Die Ausstellung „Entartete Kunst“ wird in den diktatorischen Staatsstrukturen verordnet, die (älteren) Künstlerpersönlichkeiten setzt Hamann in Bezug zu deren individuellen Erlebnisräumen und verweist auf den Widerspruch der im Selbstverständnis doch jungen nationalsozialistischen Bewegung. Heinrich Hofmanns „Monopol für das fotografische Führerbild“ und architektonischer „Größenwahn“ sind ebenso Teil der Hamannschen Kritik wie „rückwärtsgewandte Romantik“ und kleingeistige Volkskunst.
Richard Hamann greift alle wesentlichen Kunstbereiche auf und widmeten ihnen klare, die NS-Herangehensweise und politische Umsetzung nennende Kritik. Auch Arisierungen bzw. den Kunstraub vor allem jüdischer Provenienzen lässt Hamann nicht aus. Der Kunsthistoriker schließt den Beitrag mit dem Wunsch nach dem Wiedererstarken einer vor 1933 entwickelten Neuen Sachlichkeit.
Tonalität und Ausdrucksform des Beitrags von Richard Hamann scheinen dem Format und dem Zielpublikum angepasst. Es fehlen Fußnoten und Belege für seine Aussagen – bei Vortragstexten wie Rundfunkskripten nicht unüblich. Die Beispiele für Kunstsammelwut (Göring), für Ausdrucksformen der staatsnahen Kunst (Natur, Kriegsbilder, rassistisches Menschenbild) und immer wieder Hitlers Eingreifen, seine Vorgaben und Vorstellungen als „Künstler“ und Politiker sind leicht verständlich und den zeitgenössischen Zuhörer/innen allzu bekannt. Dem Publikum wird gleichsam in Erinnerung gerufen und neu bewertet, was sich auf dem Feld der Bildenden Kunst während des Nationalsozialismus ereignet hat.
In ähnlicher Weise äußern sich die anderen Marburger Professoren in ihren Vorträgen. Jeweils eine Tour d’Horizon zur Stellung der Universitäten, Religions- und Wirtschaftspolitik, Erziehung, Rassenkunde, Erziehung und nicht zuletzt zur Stimme des Gewissens zeigt Grundlagen und politische Intention auf und lässt die Zuhörenden nicht aus der Verantwortung, eigenes Handeln zu reflektieren.
Jedem der Beiträge ist der Wunsch nach selbständigem Denken, Aufklärung, freier Meinungsäußerung, letztlich einem Lernen aus der Diktatur inne.
Link zum Online Repositorium Zeitgeschichte open „Marburger Vorträge“
https://open.ifz-muenchen.de/entities/bestand/1ca770ff-4562-4898-a0e0-d782e906f81f
Dateien mit Rechercheergebnissen aus dem IfZ-Archiv:
- Zu „Re-Education“ siehe etwa Bundesausschuss für politische Bildung https://profession-politischebildung.de/grundlagen/grundbegriffe/re-education/ [↩]
- Als Tagungsband erschien 1947 „Marburger Hochschulgespräche 12. Bis 15. Juni 1946. Referate und Diskussionen“, darin auch das Tagungs- und Begleitprogramm (Signatur in der IfZ-Bibliothek W 1644). Hamanns Diskussionsbeitrag lautete „Universale und lokale Wissenschaft“. Zu den „Marburger Gesprächen“ 1947 und 1948 siehe etwa OMGUS 5/304-3 und 5/299-3: auch diese Veranstaltungen hatten Demokratisierung der Hochschulen und demokratische Erziehung zum Inhalt. Der zuständige US-Beamte war der vormalige Berliner Pädagoge F. Karsen, nun Chief Higher Education and Teacher Training. [↩]
- IfZ-Archiv ZS/A 46 Marburger Vorträge www.ifz-muenchen.de/archiv/zsa/ZS_A_0046.pdf. Vor jeder Ausstrahlung wurde von einem ‚announcer‘ daraufhin gewiesen, dass die Inhalte der Vorträge aus „freier Diskussion unter führenden Marburger Universitätslehrern und Pädagogen entstanden“ seien. [↩]
- Ebd. R. Reinhardt: „Die Universitäten im Dritten Reich“, Bl. 4 [↩]
- Ebd., S. 64-72 [↩]
- 1879 – 1961, ab 1913 Ordinarius in Marburg, ab 1947 Berufung an die ostberliner Humboldt-Universität, 1949 Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR, 1956 Entpflichtung vom Lehrstuhl, Rückkehr in die Bundesrepublik. Zu Tätigkeiten und Wirken Hamanns siehe auch: Nicola Hille: [Tagungsbericht zu:] Richard Hamann als Grenzgänger (Nicola Hille) (Marburg, 13.–14.06.2008). In: ArtHist.net, 05.08.2008. Letzter Zugriff 08.01.2025. <https://arthist.net/reviews/30659>. [↩]
OpenEdition schlägt Ihnen vor, diesen Beitrag wie folgt zu zitieren:
Ute Elbracht (4. Februar 2025). Frühe Re-Education im Nachkriegsdeutschland: Nationalsozialismus und Kunst / Marburger Vorträge. Archive in München. Abgerufen am 13. Februar 2025 von https://doi.org/10.58079/138fl